Archiv der Kategorie: Allgemein

Reue

Schon wieder ist ein Feier-Tag
mit schnellem Schritt gekommen,
den manch‘ ein Mensch nicht feiern mag,
der von der Zahl benommen,

die sich im vieler Jahre Lauf,
in große Höhen schraubte.
Das Alter nahm man gern in Kauf
weil man als Kind noch glaubte,

dass unser Leben ewig währt
in Freud‘ und ohne Schulden,
doch wer des Besseren belehrt,
kann kaum die Zahl erdulden,

die heute auf dem Kuchen steht,
umringt von Wachs und Feuer.
Die Flamme ist schnell ausgeweht –
des Lebens Preis ist Reue.

© Anita Hasel 2015

zurück zu “Alter”

Sekundenglück

An deinem Bett bin ich ganz klein.
Kein dummer Kummer fällt mir ein,
kein Selbstmitleid, kein Streit um’s Geld.
Hier zählst nur du und deine Welt.

Ein Tier aus Plüsch auf deinem Bauch.
Ein solches Stofftier hatt‘ ich auch –
dereinst, ich saß auf deinem Schoß.
Jetzt lässt die Hand mich nicht mehr los

die meine drückt mit aller Kraft.
Das Einzige, das sie noch schafft.
Dabei war nichts für dich zu schwer.
Es ist nur schon so lange her.

Doch manchmal triffst du meinen Blick:
Ganz klar, ganz groß. Sekundenglück!
So bleibt von eines Lebens Fülle
zuletzt ein Drei-Sekunden-Wille.

An deinem Bett bin ich ganz klein,
so vieles fällt mir dabei ein.
So vieles warst du einst für mich:
An all das denk’ ich jetzt für dich.

© Anita Hasel 2015

 

Unverschämtes Glück

Paula und Paul gehörten zusammen wie der Wind und das Meer. Seit dem Tanztee. Das war schon sehr lange her. Sie erinnerte sich noch gut an die steinharten Biskuits, an denen der Zuckerguss abbröckelte, wenn man sie anfasste. Im gleichen Viertel war damals ein Zahnarzt ansässig, der an den Tanzteeopfern ganz gut verdiente. Edle Biskuits nach Herrenart. In heiße Schokolade getaucht, konnte man sie sogar eine echte Leckerei nennen.

„Darf ich bitten?“, hatte er sie damals gefragt, einfach so, ohne sich vorzustellen. Ein junger, großer Mann, an dem der Anzug schlotterte. Seine Fliege war lindgrün, und sie hing ein wenig schief unter seinem spitzen Adamsapfel. Auf seinem schmalen Hals saß jedoch ein ganz passabler Kopf: Keine abstehenden Ohren, die Nase nicht zu klein und helle, kluge Augen. Ein Mann, den „Frau“ nicht so einfach übersah. Noch dazu war er wirklich gut rasiert. Und er roch auch so.
xxxSie atmete tief ein, als läge sein Duft immer noch in ihrer Nase.
xxx„Wer fragt das?“, entgegnete sie barscher als beabsichtigt.
xxxÜber den hellen Augen zog eine Wolke auf.
xxx„Sind Sie blind?“, fragte er. Seine Stimme klang jedoch eher besorgt als kess. Fast zärtlich.
xxxSie erhob sich. „Sehe ich so aus?“
xxxEr betrachtete sie abschätzend. „Eigentlich sehen Sie so aus wie die Frau, mit der ich gerne tanzen würde.“ Sein ernster Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er es genauso meinte.
xxxPaula wurde tatsächlich rot. Sie ärgerte sich darüber. „Ich lasse mich schon bitten – doch vorher wüsste ich gerne, von wem.“
xxx„Ich bin Paul“, sagte Paul und streckte ihr die Hand entgegen.
xxx„Paula.“ Sie gab ihm die ihre.
xxx„Na, da passen wir ja prächtig zusammen.“
xxxSie kicherte.

„Das gibt’s nur einmal“, spielte die kleine Kapelle. Ein ganz neues Lied – der Text zu schön, um wahr zu sein. Schon bei der ersten Drehung trat er ihr auf den Fuß. Er sah besser aus als dass er tanzen konnte. Nach einer Weile bewunderte sie sogar seinen Mut, sich überhaupt auf die Tanzfläche zu wagen. Erstaunlicherweise war sie kein bisschen ärgerlich, obwohl das rosa Sparschwein für ihre hochglanzpolierten Tanzschuhe sein Leben hatte lassen müssen. Später hatte er ihr gebeichtet, dass es ihn total viel Überwindung gekostet hatte, sie überhaupt zum Tanzen aufzufordern.

Ja, Paul war immer schon etwas Besonderes. Für Paula war er ihr Sonnenschein. Trübe Tage, sicher, die gab es auch, so wie man es sich vor dem Altar versprach: In guten wie in schlechten Zeiten. Einander lieben, wenn man glücklich ist, ist wahrlich kein Kunststück. Liebe zeigt sich erst dann, wenn es darauf ankommt. Wenn der Geldregen ausbleibt, die Wehwehchen kommen und die Sorgen nicht mehr über Nacht verschwinden.
xxxAber damals war alles ganz einfach. Man war jung und vertraute seinem Herzen, dass es den richtigen Weg einschlug. Liebe kam ohne Vorwarnung und blieb bei dem, der sie zu schätzen wusste. Nur ein Dummkopf würde sein Glück mit Füßen treten. Nachdenken war antiquiert. Wenn ein junges Ding von einem stattlichen Mann umworben wurde, konnte es sich glücklich schätzen. Und Paul war damals schon Anwärter auf eine gut bezahlte Managerstelle bei der Keksfabrik. Schon nach einem halben Jahr wollte er sie heiraten. Was für ein unverschämtes Glück!

„Darf ich Sie nach Hause begleiten?“, fragte Paul, als der Tanztee beendet war.
xxxPaula nickte, und sie gingen nebeneinander her, eine ganze Weile. Ein harmloser Spaziergang im späten Licht des langen Tages. Er redete, sie hörte zu. Worüber er sprach, war ihr einerlei. Sie mochte seine Stimme. Ein warmer Klang, irgendwie vertraut. Nach etwa einer Stunde kam das Tanztee-Lokal wieder in Sichtweite. Sie blieb stehen, zwei Häuser nur noch bis zum dem Punkt, an dem er ihr angeboten hatte, sie nach Hause zu bringen.
xxx„Danke“, sagte sie, öffnete ihre Handtasche und nahm die Haustürschlüssel heraus.
xxxEr sagte kein Wort, kein Ausdruck des Erstaunens, sondern schenkte ihr ein Lächeln. So wie er es danach immer tat, wenn sie ihn neckte. Auch dafür liebte sie ihn.

Zwei Tage später erhielt sie den Brief von ihm. Den ersten. Mit einer feinen, akkuraten Schrift, es war fast ein Gemälde, blaue Tinte in Sütterlin. Er hatte sein Herz verloren. Nicht in Heidelberg, sondern in Hannover, beim Tanztee. Er konnte nur noch an sie denken, an die Art, wie sie den Kopf hielt, wenn sie ihm zuhörte und an ihr bezauberndes Lächeln. Noch nie hatte ihr ein Mann so etwas geschrieben. Noch dazu auf Pergament. Der Brief zitterte leicht, als sie ihn wieder zusammenfaltete.

In ihrer alten Schmuckschatulle lag er heute noch, zusammen mit den anderen Briefen. Geschnürte Bündel voller Glückseligkeit. Was für ein unverschämtes Glück!

„Haben Sie ihn gekannt?“ Eine alte Dame mit Sonnenhut riss sie aus ihren Gedanken.
xxx„Wen gekannt?“ Sie erschrak.
xxx„Na, meinen Mann. Sie stehen vor seinem Grab.“
xxxJetzt war sie wieder in der Gegenwart, roch den Maiglöckchenduft und spürte den Schmerz in ihrem krummen Rücken. Paul Klee. Die goldenen Buchstaben auf dem schwarzen Stein glänzten im Sonnenlicht.
xxx„Er war ein Jugendfreund“, antwortete Paula.
xxxDie alte Dame bedachte sie mit einem kritischen Blick, die Gießkanne in der Hand. „Kennen wir uns?“, fragte sie.
xxxPaula schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube nicht. Wir – das heißt Ihr Mann und ich – hatten uns schon vor langem aus den Augen verloren. Ich habe nicht einmal gewusst, dass er tot ist. Bis ich zufällig an seinem Grab vorbei kam.“
xxx„Es ist ein Jammer“, sagte die Dame, und ihre Gießkanne neigte sich über die Maiglöckchen. „Ein Leben lang war er gesund. Dass es so plötzlich mit ihm zu Ende gehen sollte, wer hätte das gedacht.“

Paula bückte sich, ihrem altersschwachen Kreuz zum Trotz, und rückte einen Stein an der Grabumrandung zurecht. Wie zufällig fuhren ihre Finger über den Marmor, der sich trotz der warmen Sonne kalt anfühlte. „Wie war er denn so?“, fragte sie.
xxxDie alte Dame runzelte die Stirn.
xxx„Als Mann, meine ich. War er ein guter Mann?“
xxxDie Witwe hielt einen Moment inne, stellte die halbleere Kanne ab. Zuerst machte sie den Eindruck, als sei sie verärgert. Etwas lag auf ihren Lippen. Aber dann senkte sich ihr Blick auf das goldene Ringpaar an ihrer linken Hand. Sie schmunzelte.
xxx„Ein guter Mann, ja, das war er. Ich hatte unverschämtes Glück, ihn zu bekommen. Wobei…“, sie sah auf, „…es nicht so ganz einfach war, am Anfang.“ Ihr Blick schweifte ab. Bedächtiger fuhr sie fort: „In der Oststadt gab es damals ein Lokal, das hieß „Zum goldenen Engel“. Dort gaben sie jeden Samstagnachmittag den Tanztee. Da hatte ich ihn kennengelernt. Aber bis er mal mit mir ausging, ich kann Ihnen sagen, das hat gedauert.“ Sie grinste. „Er war ja so was von schüchtern, nie hat er mich aufgefordert. Später hat er mir gebeichtet, dass er sich nicht getraut hatte wegen seiner schlechten Tanzkünste.“
xxxPaula hatte ihren Paul jedoch ganz anders in Erinnerung. Schüchtern, nein, das war Paul nicht. Doch sie sagte kein Wort.
xxx„Und bis er mich endlich mal ausführte, ich glaub, bis dahin vergingen Monate. Wäre ich nicht so beharrlich geblieben, wäre aus uns nie ein Paar geworden. Tja, was ich mir mal in den Kopf setze, davon bringt mich so leicht keiner ab. Anfangs hatte ich ja sogar den Verdacht gehabt, da gäbe es eine andere, für die er sich interessiert. Aber die hat ihm dann wohl den Laufpass gegeben – zum Glück.“ Sie wurde wieder ernst. „Wir hatten eine recht harmonische Ehe, und ich denke gern daran zurück – jetzt, nachdem der Schmerz nicht mehr ganz so groß ist.“ Sie wandte sich wieder den Pflanzen zu.
xxxMit einem knappen Gruß ging Paula weiter. Doch aus sicherer Distanz blieb sie stehen, drehte sich um und beobachtete das stumme Zwiegespräch am Grab mit dem großen, schwarzen Marmorstein.

Paula und Paul gehörten einst zusammen wie der Wind und das Meer. Sie hatte es gefühlt, damals, und sie hätte es auch wissen müssen. Doch schon seine Briefe hatten ihr Angst eingejagt. Die Worte auf dem Papier waren zu schön geschrieben, um wahr zu sein. Und dann der Verlobungsantrag! Nach so kurzer Zeit! So viel Glück war doch unverschämt. So etwas konnte es doch gar nicht geben!

Als sie die Haustür öffnete, empfing sie wieder die Stille. Es roch muffig, nach Mottenkugeln und Haarspray. So wie sie immer roch – die Einsamkeit.
xxxPaula kochte den Kaffee, goss ihn in zwei Tassen und stellte beide auf den Wohnzimmertisch. Der Sessel neben ihr war leer, doch sein Foto stand daneben. Eingerahmt in Silbergrau, das Papier farblos vergilbt. Er lachte sie an, und nach dem ersten Schluck fragte sie: „Warum trinkst du nicht? Es ist doch dein Kaffee – ich habe ihn zufällig wieder gefunden. Dachte schon, es gibt die Marke gar nicht mehr.“ Sie zögerte. „Er ist selten geworden. Den zu bekommen, dafür muss man schon unverschämtes Glück haben.“

© Anita Hasel

zurück zu “Kurzgeschichten”

Zum Geburtstag hat man Freud’

Zum Geburtstag hat man Freud‘
lädt man ein ganz viele Leut‘.
Nicht’s ist schöner als der Tag,
an dem man sie bewirten mag.

Und schon fängt man an zu denken:
Was soll jeder nur mir schenken?
Und was soll’s zum Essen sein?
Limonade, Bier und Wein?

Bei der Planung für das Essen,
nicht die Allergien vergessen!
Vitaminintoleranz
und die Abneigung für Gans

fügen sich von ganz allein
in den Speiseplan mit ein.
Hauptsach‘, alle werden satt.
Nachtisch steht noch auf dem Blatt,

das ich froh zum Schoppen nehme.
Kaufe Leberkäs‘ und Creme,
Hühnerbein und Zuckerhut
ist für alle Leute gut.

Kochen ist nun angesagt,
eine Stund‘ die and’re jagt,
Töpfe klappern, Löffel wirbeln,
lustig ist das Teigverzwirbeln.

Malerisch ist meine Küche,
deftig sind die Kochgerüche,
fettig klebt das Zeranfeld:
Kochen ist halt meine Welt!

Nur noch fix die roten Tropfen
von der Wand, schön hört man’s klopfen,
herrlich strahlend, meine Gäste,
freuen sich auf’s Jubelfeste.

Geben Küßchen und viel Sachen,
die mir eine Freude machen.
So sehr gerührt, voll Blumenstrauß,
komm‘ ich nicht aus dem Staunen raus.

Hat man Glas und Platz gefunden,
von den Keksen die Gesunden,
sind Gespräche schnell im Gang,
fängt man bei der Kindheit an.

Viel zu kalt wird dann das Essen,
viel zu wenig wird gegessen,
nicht zu wenig wird getrunken,
heiter ins Gespräch versunken,

wird gescherzt und viel gelacht,
gerne bald zurückgedacht,
denn zum Geburtstag hat man Freud‘,
das sagen mir die lieben Leut‘.

Doch noch schöner als der Tag,
an dem ich sie bewirten mag,
ist für mich das Allerbeste:

Auch die Freunde haben Feste!

© 2011 Anita Hasel

 

Achtsamkeit

Den Moment einfangen – mit Achtsamkeit!

Gefühle bleiben in Erinnerung!

Träume vergisst man schnell. Hast du schon mal einen Traum aufgeschrieben, direkt nach dem Aufwachen? Träume sind nicht nur voll von Bildern, sondern vor allem auch voll von Empfindungen. Wer sie aufschreibt, wird sich auch Jahre später daran erinnern, wenn er das Geschriebene wieder liest – vor allem daran, wie es sich im Traum angefühlt hat.

Die realen Ereignisse, besonders die banalen, vergisst man schnell. Hast du schon mal versucht, einen Moment festzuhalten? An viele Momente, vor allem die sehr emotionalen, erinnert man sich oft ein Leben lang. Aber wie wär’ es zum Beispiel mit einem schönen, lauen Frühlingstag, an dem nichts Besonderes geschieht? Doch der Moment verliert sich rasch, und auch der Frühling vergeht – und im Winter sehnt man sich nach dem nächsten Frühling, ohne sich wirklich daran erinnern zu können, wie sich der letzte Frühling angefühlt hat.


Das ist eben die Eigenschaft
der wahren Aufmerksamkeit,
das sie im Augenblick das Nichts
zu Allem macht.
(Goethe)


Den Moment einfangen

Doch du kannst den Moment festhalten. Mit Achtsamkeit. Wie? Ein guter Maler fängt den Moment und die Stimmung in seinem Gemälde ein. Doch du kannst es auch aufschreiben. Und zwar alles, was du in diesem Moment siehst, hörst, schmeckst und spürst. Einfach die Sinne öffnen, nur das Geschehen um dich herum beobachten, ohne eigene Wertung / Bewertung. Nur mal so, nur mal 10 Minuten: Was sehe ich? Wie sieht es aus? Was höre ich? Wie hört es sich an? Was spüre ich? Wie fühlt es sich an? … Dann leg’ das Papier weg und schau es dir nach einer längeren Zeit wieder an: Du wirst die Zeilen lesen, und du wirst dich genau an diesen Moment zurück erinnern. So banal er auch war, er ist ein Geschenk – wie jede Erinnerung, die in uns bleibt, uns bereichert.

Eingefangene Momente


Langeweile

Malende Künstler sind Menschen,
die eine lange Weile etwas malen.
Kunstliebhaber sind Menschen,
die eine lange Weile etwas betrachten.
Gemeinsam sind sie Langweiler,
die sich niemals langweilen!


Gedichte

  • Vertriebene Zeit

Müde noch, im Morgenmantel,
bin ich starr, vor Schrecken bleich.
Hör’ vom Crash am Börsenhandel,
Aktienkurse fallen gleich!
— weiterlesen —

  • Life is live (Im Sauseschritt ins Altersheim)

Life is live in meinem Leben,
vieles muss es mir noch geben,
auch wenn ich schon 50 bin.
Wo sind all die Ages hin?
— weiterlesen —

  • Moment, bleib mal da! (Die Gegenwart dauert nur drei Sekunden!)

Wieder ist der Tag ganz jung
und rüde, um mit kühlem Schwung
die müde, angestaubte Haut zu waschen.
— weiterlesen —

  • Das ewige Leben (Wie wäre es, wenn unser Leben ewig gut und schön bliebe?)

Ach du mein gelobtes Gestern!
Deine Schwestern
Liebe, Lachen, Leichtigkeit,
ließen mich verwaist zurück,
und mit dir ging auch mein Glück.
— weiterlesen —

  • Das Herz der Dinge
    (Mit Achtsamkeit und Fantasie das Leben mit allen Sinnen wahrnehmen: Ins Herz der Dinge sehen)

Wer geht den Dingen auf den Grund,
wo Zeit verweilt
im Schatten eines alten Baumes?
— weiterlesen —

  • Die Terminatorin (Im Büro von einem Termin zum anderen gejagt)

Termine machen uns viel Freude!
Da treffen sich so viele Leute
und alle zu der gleichen Stund´
und zu dem gleichen Thema gar!
Ja, ist denn das nicht wunderbar?
— weiterlesen —

Ein Nachmittag im Mai

Der Wind ist warm. Er spielt mit den Zweigen und Blättern, die sich bewegen, als tanzen sie zu einer wild-fröhlichen Melodie. Die Schatten der Bäume spielen Fangen auf dem saftigen Grün des Rasens. Kinder lachen laut. Ein Windrad dreht sich schnell. Es knistert nach Sommer.

Der Himmel ist blau. Weit und leicht umspannt er die helle Welt. Blätter und Dachziegel glänzen und reflektieren das gleißende Licht.

Vögel zwitschern durcheinander – kreuz und quer klingen ihre unterschiedlichen Stimmen. Tauben locken ausdauernd mit ihren dunklen Rufen im Drei-Viertel-Takt.

Samenpollen beschneien die Stadt, schweben auf und ab, schwerelos, und fliegen mit dem Wind davon.

Nur Wollen, kein Müssen. Nur hier sitzen und das Wohlgefühl genießen. Das ist Mai.

© Anita Hasel

 

Noch ist er gesund!

Klausi hat Geburtstag heut,
da freuen sich ganz viele Leut’!

Doch wozu dienen Wiegenfeste?
Zum Wünschen, nur das Allerbeste,
und auch zum Freuen, weil ein jeder
denkt: “Der arme „Schwarze Peter“,

ist schon wieder ein Jahr älter!”
Man stößt an mit Sekt und Selter’,
gratuliert und lacht ins Fäustchen:
“Alt geworden ist das Kläuschen,

hat mal weniger gewogen,
und die Falten, ungelogen,
sind mir heut’ erst aufgefallen –
nicht nur mir, o nein, uns allen!”

Darum hebet hoch die Tassen,
Klausi soll sich feiern lassen,
denn heut’ kann er ja noch laufen,
sich sogar etwas besaufen.

Morgen schon kann’s anders sein,
fährt der Ischias ihm ins Bein
fällt das Gebiss ihm aus dem Mund…

Heißa, noch ist er gesund!

© 2011 Anita Hasel

 

Geburtstags-Trost

Ist man jung und noch ein Kind,
vergeht die Zeit nicht so geschwind.
Ewig schleicht sie, alles dauert,
immer man auf’s Ende lauert.

Auch die Jahre in den Schulen,
lassen sich nicht schneller spulen.
Nur die Stund’ für’s „Arbeit schreiben“,
scheint die Uhr doch anzutreiben.

Bei der ersten Arbeitsstelle,
tritt man wieder auf der Stelle.
Ausruh’n liegt in weiter Ferne,
sieht man noch die Morgensterne.

Klammheimlich geh’n sie doch in’s Land,
die Jahre, still und unerkannt.
Kaum merklich geht es immer weiter.
Stillstand wär’ auch nicht gescheiter.

„Eins, zwei, drei, im Sauseschritt,
fliegt die Zeit, wir fliegen mit.“
Dieses „Fliegen“, gestern, heute,
macht uns doch auch so viel Freude.

Leben ist, was sich bewegt.
Freud’ und Leid, es kommt und geht.
Niemand weiß, wo geh’n wir hin,
doch wo wir war’n, bleibt uns im Sinn.

Und wer wir sind, wonach wir streben,
die Antwort gibt uns nur das Leben.
Drum zähl’ die Jahre und sei heiter,
denn immer mehr wirst du gescheiter.

Kannst Dinge tun, die du versäumt,
das endlich sein, was du erträumt.
Doch fehlt dir dazu noch der Schwung,
dann bist du eben noch zu jung!

© 2002 Anita Hasel

 

Schwebende Elefanten

Annika war nun in einem Alter, in dem man beide Hände braucht, um die Anzahl der Lebensjahre an den Fingern abzuzählen. Schon im Kindergarten hat sie gewusst, wie man das macht: Die linke Hand spreizen, und mit der rechten Anhalter spielen. Mächtig stolz betrachtete sie ihre Hände.
xxx„Mit siebzehn hat man noch Träume“, sang der Mann im Radio. Bis siebzehn konnte sie schon auswendig zählen, sogar bis zwanzig, das hatte ihr der Vater beigebracht. Doch wie macht man das dann mit den Fingern, wenn man nur zwei Hände hat? Und überhaupt: Siebzehn! Da musste man schon sehr, sehr alt sein. Aber immerhin, träumen würde man dann noch können – auch noch mit siebzehn.

Letzte Nacht hatte sie von lilafarbenen Elefanten geträumt, die über der Wüste schwebten. Die waren ganz leicht, obwohl sie so groß waren. Das sah lustig aus. Aus der Sonne strahlte ein helles Licht, und viele bunte Steine lagen am Wegesrand, glitzerten. Wie die Glasmurmeln in ihrer geheimen Schatztruhe unter dem Bett. Gerne würde sie heute Nacht diesen Traum weiterträumen. „Mit etwas Glück“, hatte die Mutter gesagt, „träumst du wieder davon.“ Und Glück, davon hatte sie jetzt jede Menge, denn der Klee auf ihrer Fensterbank war heute Morgen erwachsen geworden. Ganz schnell war das gegangen, bis aus dem Samen zartes Grün durch die Erde wuchs, und nun besaß jeder Klee vier Blätter. „Wenn du den im Wald findest, bedeutet das Glück“, hatte ihr die Mutter erklärt.
xxx„Wie kann der Klee mir Glück bringen?“, fragte sie beim Abendbrot.
xxxDer Vater, vertieft in die Zeitung, mit der man so schöne Schiffe bauen kann, schaute kurz auf, nur um dann wieder das zu tun, was er am liebsten tat: Lesen.
xxx„Der vierblättrige Klee ist selten, deshalb bringt er Glück“, antwortete die Mutter.
xxxAnnika knabberte an einem Radieschen. Florian aus der Schule hatte kein Glück. Sein Vater war nie da und seine Mutter immer krank. Deswegen kam er auch immer zu spät und musste zur Strafe nachsitzen.
xxx„Ist mein Klee auf der Fensterbank auch selten?“, fragte sie.
xxxDer Vater brummte. „Das ist doch alles Unfug. Diesen Klee verkaufen sie doch haufenweise, besonders zu Silvester. Als originelle Geschenkidee für all die Unglücklichen, die darauf hoffen, dass das neue Jahr besser wird. Doch das einzige, was dieses Unkraut zustande bringt, ist, sich wie wild in allen Topfzimmerpflanzen zu vermehren, und zwar so hartnäckig, dass man es nie wieder los wird.“
xxxDie Mutter kniff die Lippen zusammen.
xxx„Au!“, rief er. „Tritt mich doch nicht unter dem Tisch!“
xxx„Dein Glücksklee ist der einzige Klee, der auf deiner Fensterbank wächst, und daher ist er selbstverständlich selten“, erklärte die Mutter.
xxxAnnika runzelte die Stirn. Würde sie ein paar Triebe verschenken, würde er aber auch auf anderen Fensterbänken wachsen, und dann wäre er also nicht mehr selten. Dann müsste sie ihn schon ganz verschenken. Sie nahm einen großen Schluck Apfelsaft.
xxx„Wo kommt das Glück denn her?“, fragte sie, und dieses Mal sah sie instinktiv nur die Mutter an.
xxxDoch der Vater antwortete: „Glück kommt nirgendwo her. Glück ist entweder da oder nicht. So ist das.“
xxx„Und warum ist das so?“, fragte Annika.
xxx„Das verstehst du noch nicht“, war die knappe Antwort.
xxxSchon wollte sie die Unterlippe vorschieben, doch die Mutter mischte sich ein: „Glück ist nicht einfach nur so da. Das Glück kommt zu dir, wenn du fest daran glaubst.“
xxx„Wenn ich an meinen Klee glaube, dann kommt das Glück zu mir?“
xxxDie Mutter nickte. „Genauso ist es.“
xxx„Unfug“, schnarrte der Vater. „Mit Glauben hat das nichts zu tun. Mancher hat eben Glück, der andere nicht.”
xxx„Aber es heißt doch auch: Jeder ist seines Glückes Schmied. Nein, nein, mein Lieber, so einfach ist das nicht“, erwiderte die Mutter. „Wenn du nicht an dein Glück glaubst, kannst du es auch nicht schmieden. Letzten Endes sind wir doch alle für unser Los verantwortlich. Entweder wir pflanzen einen neuen Baum, oder wir sägen an unserem eigenen Ast.“
xxx„Florians Mutter aber hat nicht einmal einen Garten. Ich glaube nicht, dass er an einem Ast gesägt hat.“ Annika sah ihre Eltern mit großen Augen an.
xxx„Florian, der Junge von nebenan“, antwortete die Mutter auf das Stirnrunzeln des Vaters. „Sein Vater ist auf und davon, und seine Mutter hat ein Alkoholproblem. Zwei von seinen sechs Geschwistern übrigens auch schon.“
xxx„Und warum hat Florian dann kein Glück?“, bohrte Annika weiter.
xxx„Er wurde in die falsche Familie hinein geboren“, war die Antwort des Vaters.

***

Letzte Nacht hatte sie die Elefanten wieder gesehen. Groß und bunt, mit riesigen Ohren und langen, spitzen Stoßzähnen sind sie vom Himmel herabgekommen. Und dann haben sie alles zertrampelt, was ihnen unter die Füße kam. Die anderen haben geschrien, doch Annika konnte sich nicht rühren. Starr vor Schrecken musste sie mit ansehen, wie die Schlafstätten aus Zeitungspapier und Pappe zerstört wurden, Flaschen klirrten, Glas splitterte. Bis der Himmel explodierte. Dann war es still.
xxxWie eine Schiffbrüchige lag sie auf der Luftmatratze. Die Brücke, die keine zehn Meter weit von ihr über den brackigen Kanal führte, war immer noch da. Doch die Farben waren verschwunden. Der Herbstnebel hatte die Unterstadt mit einem feinen Grauschleier überzogen. Konnte Grau noch grauer werden? Ihre Hand rupfte nervös an dem feuchten Gras.
xxxEin junger Mann, etwa in ihrem Alter, kam in Sichtweite. Ein Jogger. Er lief ziemlich schnell. Irgendwie erinnerte er sie an einen Schulfreund aus der Grundschule: Florian. Von ihm hatte sie ihren ersten Kuss bekommen, auf die Wange. Was wohl aus ihm geworden war? Vielleicht sollte sie ihn aufstöbern, vielleicht würde er ihr Geld leihen, nur ein paar Euro oder vielleicht soviel, dass sie diese Woche überstand?
xxxDer Jogger blieb stehen. Sein Gesicht war gerötet, und er atmete stoßweise. Vorn übergebeugt, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, sah er zu ihr herüber.

xxx„Hi!“, rief Annika.
xxxEr richtete sich auf und ging auf sie zu.
xxx„Hi! Was tust du hier? Es ist doch viel zu kalt, um hier im Gras zu liegen.“
xxx„Sie haben mich hier gelassen. Letzte Nacht. Sind einfach weitergezogen und haben mich nicht mitgenommen.“
xxxDer Jogger betrachtete das „Hier“: Überall lagen Flaschen und Pappbecher herum. Verbrannte Erde und schwarze Asche zeugten von einer nächtlichen Feuerstelle. Unter seinem Schuh knirschte es verdächtigt. Er hob den Fuß. Eine kaputte Spritze.
xxx„Bist du okay?“
xxx„Ich hab nur fest geschlafen.“
xxx„Deine Freunde haben dich einfach zurückgelassen, weil du geschlafen hast?“ Er runzelte die Stirn.
xxxSie stand auf. Doch das ging nur sehr langsam, denn die Welt begann sich zu drehen.
xxxDer Jogger griff in seine Jackentasche.
xxxAnnika griff nach dem angebotenen Päckchen, ließ es dann aber gleich darauf fallen. Gummibärchen! Das Karussell drehte sich schneller. Sie musste sich wieder setzen.
xxx„Warum gehst du nicht nach Hause. Hast du keine Eltern?“, fragte er und ging vor ihr in die Hocke.
xxx„Pah! Eltern! Bin froh, dass ich die endlich los bin!“, keifte sie.
xxx„Ich wäre froh, ich hätte welche gehabt”, sagte er.
xxxSie verzog den Mund. „Da hast du nix verpasst, glaub mir. Dauernd dieses Bevormunden. Als wenn man noch ein Kind wäre! Die schnallen es nicht, die kapieren einfach gar nichts. Sie wollen dir nur vorschreiben, was du zu tun und zu lassen hast. Und immer wissen sie alles besser! Diese Großkotze, ich …“ Sie verstummte.
xxx„Mein Vater kam ins Gefängnis, als ich fünf war. Und meine Mutter – die nahm sich das Leben, da kam ich gerade in die vierte Klasse“, sagte er.
Gedankenverloren rupfte sie an dem Gras. „Kannst du mir Kohle leihen – nur ein paar Euro oder so…?“
xxxEr zog die Innentaschen seiner Jogginghose nach außen. „Glaubst du, ich laufe um diese Uhrzeit hier mit Geld herum? Schon öfters ist hier einer überfallen worden. Und du solltest auch nicht mehr bleiben. Komm doch mit.“
xxx„Wohin willst du mich mitnehmen?“
xxx„Ich wohne nicht weit weg von hier. Dort kann ich dir ´ne heiße Schokolade machen. Wenn du willst.“

Zwischen ihren Fingern hielt sie einen Klee. Er hatte vier Blätter. Sie zwirbelte ihn hin und her, und aus den Blättern wurde ein kleiner Propeller.
xxx„Glaubst du an das Glück?“, fragte sie ihn.
xxxEr nahm das zarte Pflänzchen aus ihrer kalten Hand. Vorsichtig, als könnte es in seinen Fingern zerdrückt werden, betrachtete er es nachdenklich. Seine Mundwinkel zuckten, doch er schwieg.
xxx„Und du?“, fragte er schließlich.
xxxSie hielt den Kopf etwas schief und schaute ihn an. Ihre Nase begann, sich zu kräuseln. Entschlossen stand sie auf: „Ich bin Annika.“
xxxAuch er erhob sich. „Florian“, erwiderte er und reichte ihr die Hand.
xxxSie lachten.
xxx„Gibst du ihn mir wieder?“ Sie meinte den Klee.
xxxEr gab ihn zurück.

„Der ist nämlich selten“, erklärte sie, als sie gemeinsam die Wiese verließen.

© Anita Hasel

zurück zu “Kurzgeschichten”

Die Fratze

Hilde Grimm war nicht nur anstrengend, sie war unerträglich. Ein bissiges Weib. Kaum einer wagte es, ihr einen Besuch abzustatten, denn das blassgelbe Schild „Ich brauche 3 Sekunden bis zur Tür, und du?“ hing nicht von ungefähr an ihrem Tor. Dass hier nicht von einem Hund die Rede war, das wusste doch jeder.
xxxUnermüdlich konnte sie hinter den Gardinen lauern, den schweren Busen auf ihre teigigen Unterarme abgelegt, die Augen wachsam, die Ohren gespitzt. Mit ihrem misstrauischen Blick durchschaute sie alles und jeden, und ihr Mundwerk, scharf wie eine Rasierklinge, kam oft zum Einsatz. Oh ja, Hilde konnte sich sehr gut wehren gegen die Bande um sie herum, die nur darauf aus war, sie zu piesacken.
xxxDaher war es selbstredend, dass Frau Sägeberg aus eben diesem Grund auf ihrer Gartenfläche neben Hildes Haus einen bombastischen Rasen angelegt hatte. Das war kein Rasen mehr, das war ein Fußballfeld, so ausladend, dass für Blumen und Sträucher kein Platz mehr war. Das fette Grün hatte alles Schöne und Liebliche gnadenlos verdrängt. Eine Zumutung für jeden, der sich diesem Anblick aussetzen musste. Doch niemand zwang Hilde, sich auf ihrem Balkon aufzuhalten, wo die Luxwerte mitunter mallorquinische Höhen erklommen.

An einem sonnigen Sonntag im Mai jedoch öffnete Hilde unerwartet ihre Balkontür und trat hinaus in das Licht. Schwerfällig ließ sie sich auf den Gartenstuhl plumpsen. Die Luft war noch kühl, aber die Wärme der Sonne zauberte schnell ein zartes Rosa auf ihre schlappen Wangen. Leise quietschend rutschte sie auf der Schutzfolie des Gartenstuhlpolsters ein Stück nach unten, lehnte sich zurück, legte die Arme auf die Stuhllehnen und verschränkte die Hände über der zugeknöpften Kittelschürze. Die Sonne schien auf ihre ausgestreckten Beine, an deren Ende zwei graue Filzpantoffeln aneinander rieben.
xxxVögel zwitscherten eifrig, eine dicke Hummel brummte vorbei, sonst war es still. Kein Verkehrslärm, keine schreienden Kinder, keine Stampfmusik, und überhaupt: Kein Mensch weit und breit. Hilde schloss die Augen. Ein leichtes Lüftchen wehte, blies ihre trüben Gedanken fort und umschmeichelte zärtlich ihr sprödes Haar. Langsam ließ sie sich fallen und von der Müdigkeit davon treiben.

Plötzlich riss sie die Augen auf, als ohrenbetäubendes Getöse sie zusammenzucken ließ. Frau Sägeberg von nebenan hatte den Rasenmäher angeworfen, und nun trabte sie forschen Schrittes über die dichten, grünen Halme, die Höllenmaschine vor sich her schiebend. Hilde war schon aufgesprungen, ihre Hände umklammerten fest das rostzerfressende Geländer. Vornüber gebeugt schrie sie: „Herrgottsakrament! Es ist Sonntag! Wissen Sie das denn nicht? Sooonntag!“ Sie brüllte es aus Leibeskräften, doch gegen die kreischend rotierenden Sensen des Rasenmähers kam selbst sie nicht an.
xxxFrau Sägeberg drehte sich nicht um, sondern tat gerade so, als würde sie nichts hören. Schnell hatte sie das Ende der Rasenfläche erreicht, nahm eine scharfe Kurve, wendete die Lärmquelle und eilte nun im Stechschritt in Hildes Richtung. Den Blick geradeaus gerichtet, ignorierte sie stoisch das wild gestikulierende, dicke Weib auf dem winzigen Balkon.

Hilde trat den Rückzug an. Ihr schmaler Mund zuckte nervös, als sie wieder in ihr graues Reich eintrat. Das bisschen Licht, das sich durch die kleinen Fenster zwängte, konnte dem Mahagoni nichts anhaben. Vor allem nicht der alten Vitrine mit dem italienischen Porzellan, ein Monstrum in der dunkelsten Ecke des Raumes.
xxxHilde thronte in dem breiten Sessel, der der Vitrine am nächsten stand. Die bösen Gedanken waren wieder zurückgekehrt, spukten in ihrem Kopf, während sie vor sich hinstarrte. „Verbrecher, alles Verbrecher! Kennen weder Zucht noch Ordnung, keinen Respekt vor dem Alter! Kommen sich toll vor, so jung und dynamisch. Na wartet nur, ihr werdet auch mal alt!“, murmelte sie.
xxxDie Puppe mit dem Kindergesicht und dem Sonntagskleidchen vor ihr auf dem Sofa hörte ihr gleichgültig zu, ihr liebliches Lächeln war unverwüstlich. Hilde erhob sich mühsam, nahm das lächelnde Puppenkind und setzte es auf den Sessel, in dem sie soeben noch gesessen hatte. Ein seidenbesticktes Kissen links und rechts, und das Puppenkind hatte es bequem und warm.
xxxAuf dem Weg in die Küche zu ihrer gepolsterten Fensterbank hielt sie abrupt inne: Es hatte geläutet. Widerwillig trottete sie zur Haustür. Sie erwartete keinen Besuch, höchstens den dusseligen Alten von nebenan, der immer öfter die Hauseingänge verwechselte. Jetzt war das Maß voll! Energisch drückte sie die Türklinke herunter.

„Guten Tag Frau Grimm. Ich hoffe, ich habe Sie nicht gestört.“ Ein junger, tadelos rasierter und gekämmter Mann in Anzug und Krawatte stand vor ihr, eine lederne Aktentasche baumelte an seiner linken Hand.
xxx„Ich will nichts kaufen!“, Hilde wollte die Tür gleich wieder schließen, doch ein polierter Schuh schob sich dazwischen. Wütend riss sie die Tür weit auf. „Nehmen Sie Ihren Fuß da weg, oder ich hole die Polizei!“ Ihre Stimme war kratzig wie ein Reibeisen.
xxxDer Fremde jedoch gehorchte nicht, sondern entgegnete in freundlichem Tonfall: „Frau Grimm, ich will Ihnen nichts verkaufen. Ich bin an diesem schönen Tag zu Ihnen gekommen, um mit Ihnen über Gott zu sprechen.“
xxxHildegard vergaß, den Mund zu schließen. Aber nur kurz.
xxx„Über Gott wollen Sie mit mir reden? Warum? Kennen Sie mich, hat Sie jemand zu mir geschickt, um mir meinen letzten Nerv zu töten, vielleicht der Herr im Himmel persönlich?“
xxxDer Mann im Anzug lächelte sanft. „Wenn Sie das so nennen wollen, ja, sozusagen. Doch nicht, um Sie zu ärgern, kommt Gott zu Ihnen, im Gegenteil.“
xxxHilde stemmte ihre Fäuste in die nicht vorhandene Taille. „Und was will Gott von mir? Will er, dass ich ihm Geld gebe oder vielleicht etwas vererbe? Bei mir ist nichts zu holen, junger Mann, ich bin nur eine arme alte Frau, und wenn Sie mich nicht in Ruhe lassen, hetze ich meinen Hund auf Sie!“ Ihr krummer Finger zeigte auf das alte Warnschild.
xxxGottes Gesandter sah sich kurz um: Ein Wachhund war weder in Sicht- noch in Hörweite. Auf seinen Schutzengel war Verlass. Anstatt ihrer Aufforderung endlich nachzukommen, setzte er die Aktentasche ab, öffnete sie, nahm einen dicken Schmöker heraus und schlug ihn auf, ohne dabei den rechten Fuß auch nur einen Zentimeter von der Türschwelle zu nehmen. „Sehen Sie, Frau Grimm, was uns die Bibel prophezeit hat.“ Er hielt ihr das aufgeschlagene Buch direkt unter die Nase. „Und nur noch eine kleine Weile, und der Böse wird nicht mehr sein. Die Sanftmütigen werden die Erde bewohnen, und sie werden wirklich ihre Wonne haben an der Fülle des Friedens…Schauen Sie nur, hier steht es schwarz auf weiß. Macht uns das nicht Mut? Ist das nicht eine schöne Zukunft, die uns bevorsteht?“
xxxHilde schaute weder sanft noch wonnig. Der dicke Wulst über ihrer Nasenwurzel wurde noch dicker, und die dunklen Schatten unter ihren Augen verliehen ihrer Miene fast etwas Teuflisches. Der Gottesfürchtige wich instinktiv einen Schritt zurück, als Hilde ihm bedrohlich nahe kam. Schon öffnete sie den Mund, um etwas Boshaftes zu erwidern, doch eine dicke weiße Flüssigkeit fiel genau in diesem Moment vom Himmel und landete auf ihrer kittelgeschürzten Oberweite. Hilde reagierte sofort. Hastig wischte sie mit der Hand über die schmierige Ausscheidung, die sich dadurch großflächig verteilte. Die warme Flüssigkeit klebte nun an der Innenfläche ihrer Hand – unwillkürlich streckte Hilde sie weit von sich, Gottes Abgesandtem entgegen, der noch einen weiteren Schritt zurückwich.
xxx„Sehen Sie, was Sie angerichtet haben!“, brüllte Hilde ihn an. „Das ist Vogelscheiße! Das geht nie wieder raus! Herrgottsakrament!“
xxxDer fromme Herr blickte zum Himmel, ein kurzes Schmunzeln huschte dabei über sein Gesicht. „Es gibt Leute, die glauben, dass so etwas Glück bringt.“
xxxHilde starrte ihn entgeistert an: „Das soll Glück bringen? Und was um Himmels Willen muss mir dann noch Schrecklicheres passieren, damit es mir Unglück bringt?“
xxxDer gute Mann zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich bin nicht abergläubig, sondern gläubig. Wenn Sie nur Ihr Herz öffnen und den Herrn hineinlassen, wird er Ihnen Frieden geben.“
xxxDas war zu viel! Hilde drehte sich ruckartig herum und ging zurück in ihr Haus. Hinter der Tür bellte sie ihn noch an: „Gehen Sie, und lassen Sie mich in Ruhe! Dann hab ich meinen Frieden, dazu brauche ich niemanden, schon gar keinen Herrn!“ Lautstark fiel die Tür ins Schloss.

Am Waschbecken schrubbte Hilde zuerst ihre Hände, dann die Kittelschürze mit der Wurzelbürste. Immer mehr Schaum quoll hervor und immer schneller trieb sie die Bürste an, bis ein Schweißtropfen an ihrer Schläfe hinunterlief. Mechanisch wischte sie mit dem Handrücken darüber und erschrak, als sie hochsah, geradeaus in den Spiegel vor ihr.
xxxEin altes Gesicht starrte sie an, das ihr seltsam fremd vorkam. Irgendetwas war mit den Augen. Hilde ging näher heran: Rabenschwarze Pupillen, das Grün der Iris war kaum noch zu sehen. Vorsichtig zog sie ein Augenlid herunter: Dunkles Rot, das sich ins gräulich Gelbe mischte. Missgünstig spitzte sie den Mund und viele kleine Falten erschienen wie von Zauberhand.
xxxMutig versuchte sie ein Lachen. Der obere Rand ihrer Zahnprothese war nun deutlich zu erkennen. Die Falten um den Mund verschwanden, aber der Blick blieb starr wie die Krähenfüße an den Augenwinkeln, eingemeißelt in die lederne Haut. Angewidert wandte sie sich ab, doch ein merkwürdiges Gefühl beschlich sie, so als starre die Fratze sie immer noch aus dem Spiegel an, als bohre sich dieser böse Blick direkt zwischen ihre Schulterblätter. Sie erschauderte.
xxxVerwirrt, fast verängstigt schlurfte sie ins Wohnzimmer, direkt zu dem breiten Sessel. Doch das Puppenkind war nicht mehr auf seinem Platz. Es saß auf dem Sofa und beobachtete sie. Das liebliche Lächeln war erfroren, der Blick der schwarzen Puppenaugen war hart, fast grausam. Krähenfüße hatten sich an den kleinen runden Augen gebildet, die Farbe an den Lippen war abgeblättert. Hilde ging einen Schritt zurück, die Hände mit gespreizten Fingern schützend auf ihre Brust gelegt. Doch die Puppenaugen folgten ihr, oder schien es nur so? Schnell bewegte sich Hilde in Richtung der Balkontür, die offen stand. Zu ihrem Entsetzen rührte sich die Puppe auch und folgte ihrer Bewegung mit dem Kopf.
xxxHilde stürzte fast über die Türschwelle, als sie auf den Balkon floh. Was sie allerdings dort sah, machte sie endgültig fassungslos! Die Welt war grau geworden, jede Farbe war verschwunden. Der Rasen der Nachbarin, die Tanne im Hinterhof, ja sogar ihre Balkongarnitur – alles war grau. Und es war still, so still, dass sie nur noch ihren eigenen Atem hören konnte.
xxxSie lauschte angestrengt auf das seltsam laute, rhythmische Geräusch. Luft wurde hastig in ihre Lunge eingesogen und wieder hinausgepresst, rasselnd und pfeifend. Ein und aus, immer lauter und immer schneller. Hilde griff sich ans Herz, kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn. Schließlich hielt sie den Atem an, um dieses grässliche Geräusch nicht mehr zu hören, doch es brach nicht ab. Im Gegenteil, es wurde immer lauter, deutlicher, unerbittlich raubte es ihr den Rest Verstand. Bis es nur noch ein lautes Keuchen war, wie der heiße Atem einer alten Dampflokomotive, die immer schneller fuhr, in ihren Kopf eindrang, um dort zu explodieren.

Hilde schlug die Augen auf und blinzelte verkniffen in das grelle Sonnenlicht. Tiefe Erleichterung machte sich in ihr breit, als sie feststellte, dass sie den Balkonstuhl überhaupt nicht verlassen hatte. Noch etwas benommen sog sie den süßlichen Duft des zwischenzeitlich frisch gemähten Grases ganz tief ein und erfreute sich einen Moment lang tatsächlich an dem saftigen Grün des Rasens.
xxxDoch als sie sich bewegte, bemerkte sie die eklige Flüssigkeit, die sich unter ihren Schenkeln auf dem Plastikbezug des Stuhles gebildet hatte. Mit einem Taschentuch wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. In diesem Augenblick erblickte sie den Rasenmäher, dann Frau Sägeberg, die sich bückte, um ihn wieder anzulassen. Doch Hilde war schneller. Wie von der Tarantel gestochen schnellte sie hoch, beugte sich ganz weit vor und schrie aus Leibeskräften: „Herrgottsakrament! Es ist Sonntag! Wissen Sie das denn nicht? Sooonntag!“

Frau Sägeberg hielt erschrocken inne, richtete sich auf und konnte nur noch sehen, wie Hilde fiel und ein Teil des morschen Geländers mit ihr. Ein Höllenlärm. Dann war es still.

© Anita Hasel